Stigmatisierung
Ein Interview mit Hannes Lüthi über Stigmatisierung im Primarschulalter und darüber, wie betroffene Kinder unterstützt werden können.
Herr Lüthi, Sie sind stellvertretender Geschäftsleiter von aha! Allergiezentrum Schweiz und haben vor ein paar Jahren eine Masterarbeit über die Stigmatisierung von Primarschulkindern mit atopischer Dermatitis verfasst. Weshalb wählten Sie dieses Thema?
In meiner damaligen Funktion bei aha! Allergiezentrum Schweiz hatte ich regelmässig direkten Kontakt mit Kindern mit atopischer Dermatitis (Neurodermitis) und ihren Eltern. Dabei erlebte ich, wie besonders Kinder im Primarschulalter unter ihrer Hauterkrankung litten.
Welches sind die Herausforderungen für Kinder mit Neurodermitis, wenn sie in die Schule kommen?
Diese Kinder leiden einerseits unter den Krankheitssymptomen wie Juckreiz oder Verletzungen aufgrund des Kratzens. Auf der anderen Seit leiden sie häufig auch in psychischer Hinsicht. Der Eintritt in die Primarschule stellt hierbei einen wichtigen biographischen Einschnitt für die Kinder dar: Sie müssen sich behaupten, es gelten Verhaltensregeln, Leistungen zählen und die Kinder werden vergleich- und bewertbar. In dieser Phase sind Kinder mit einer chronischen Erkrankung besonders gefordert. Dies gilt umso mehr, wenn die Krankheit – wie dies bei einer Neurodermitis zutrifft – gut sichtbar ist.
Nicht alle von Ihnen befragten Schulkinder haben Stigmatisierung gleich erlebt. Was haben Sie herausgefunden?
Ich habe für meine Arbeit qualitative Interviews mit betroffenen Kindern durchgeführt und dabei drei Typen von Stigmatisierungserleben erkannt. Unter den Kindern mit einer schweren Neurodermitis habe ich die ersten beiden Gruppen ausmachen können:
Erstens diejenigen Kinder, die klar unter Stigmatisierung litten. Sie fühlten sich von den anderen Kindern abgelehnt und ausgegrenzt, empfanden aufgrund ihrer Hautsymptome Scham und versuchten, betroffene Haut zu verstecken.
Die Kinder der anderen Gruppe mit schwerer Neurodermitis fühlten sich gut integriert in der Klasse. Ihre Hauterkrankung war zwar ein wichtiges Thema, aber nur mit wenig Stress verbunden. Diese Kinder sprachen offen und proaktiv über ihre Haut und gingen anderen Kindern nicht aus dem Weg.
Die Kinder mit nur einer leichten Hautbetroffenheit machten die dritte Gruppe der Betroffenen aus. Sie berichteten über keine Stigmatisierungen und brauchten dementsprechend keine Bewältigungsstrategien.
Kinder der ersten Gruppe sind demnach besonders verletzlich. Wie erkennt man, ob ein Kind besonders leidet?
Kinder, die stark unter Stigmatisierung leiden, erleben Ablehnung oder Diskriminierung ganz stark: Sei es, dass sie sich nicht richtig in die Klasse eingebunden fühlen oder gar verbale oder physische Gewalt erfahren. Die betroffenen Kinder reagieren darauf mit verschiedenen Strategien, um negative Erfahrungen zu vermeiden oder ihnen aus dem Weg zu gehen: Sie resignieren, ziehen sich zurück und bleiben beispielsweise in der elterlichen Wohnung, anstatt draussen zu spielen. Sie meiden soziale Kontakte auch im familiären Umfeld sowie Orte, an denen sie sich ausgestellt fühlen, wie Hallen- oder Freibäder.
Kinder mit einer schweren Neurodermitis empfinden weiter häufig Scham aufgrund ihres Aussehens. Dies hängt unter anderem damit zusammen, dass andere Kinder – zum Teil auch deren Eltern – aus Unwissen meinen, dass die Hauterkrankung ansteckend sei.
Wie steht es mit den Kindern, die trotz einer schweren Neurodermitis angeben, nicht zu leiden?
Auch wenn diese Kinder vordergründig einen scheinbar souveränen Umgang mit ihrer Neurodermitis zeigen, ist es möglich, dass sie leiden. Es ist deshalb wichtig, die Kinder nicht nur in ihrem Verhalten zu beobachten, sondern mit ihnen ihre Krankheit und eventuelle schlechte Erfahrungen in ihrem Umfeld zu thematisieren.
Lassen sich die Ergebnisse Ihrer Umfrage auch auf Kinder mit Vitiligo und Psoriasis übertragen?
Zwischen Neurodermitis und Psoriasis bestehen sowohl vom Äusserlichen und der Pflegebedürftigkeit der Haut her, als auch wegen des Juckreizes viele Gemeinsamkeiten. Aus dieser Sicht gehe ich davon aus, dass eine vergleichbare Befragung unter Kindern mit Psoriasis ähnliche Resultate ergeben hätte. Bei Kindern mit Vitiligo fehlen demgegenüber die für Psoriasis oder Neurodermitis typischen, von Dritten unter Umständen als eklig empfundenen Plaques oder Rötungen und Verletzungen. Trotzdem vermute ich, dass das Stigmatisierungserleben von Kindern mit Vitiligo ähnlich sein kann, zumal Vitiligo oft an gut sichtbaren Stellen wie Gesicht und Hände auftritt. Gesicherte Aussagen kann ich dazu aber nicht machen, da ich dies für meine Arbeit nicht recherchiert habe.
Welche Bedeutung hat die Kind-Eltern-Beziehung?
Mit Blick auf meine Umfrage ist als erstes die Feststellung wichtig, dass alle befragten Kinder die Familie als einen Hort von Sicherheit und Geborgenheit wahrnahmen. Die Familie bildet somit einen wichtigen Schutzraum, in dem Kinder «sich selber» sein können. In meinen Gesprächen mit den Kindern kam dabei der Hautpflege eine Art Ankerfunktion zu: Wenn die Eltern ihnen beim Eincremen halfen, erlebten die Kinder darin Fürsorge und Zuwendung.
Wie können Eltern ihre Kinder im Umgang mit anderen Kindern unterstützen und stärken?
Eltern sollten ihre Kinder in einem selbstsicheren Umgang mit der Hauterkrankung bestärken und ihnen vermitteln, dass sie sich nicht zu schämen brauchen. Dabei können die Eltern ein Vorbild sein. Sie können dazu mit dem Kind verschiedene Bewältigungsstrategien besprechen und diese mit ihm üben.
Daneben kann es im Interesse des betroffenen Kindes auch angezeigt sein, dass die Eltern im Gespräch sind mit Lehrpersonen oder anderen Eltern und die Erkrankung oder eine allfällige Stigmatisierung thematisieren. Denn nicht nur Eltern, auch Gleichaltrige können eine wichtige Stütze sein, indem sie zu Kindern, die scheinbar anders sind, stehen und sich für sie einsetzen.
Welche Rolle kommt anderen Erwachsenen zu?
Lehrpersonen und weitere pädagogisch tätige Personen sind besonders gefragt. Sie sollten Stigmatisierung im Unterricht altersgerecht thematisieren. Dabei sollte bei den Kindern das Bewusstsein dafür geschult werden, dass Hauterkrankungen – aber auch andere Abweichungen von der sogenannten Norm – kein Grund für Ablehnung oder Ausschluss sein dürfen. In meiner Befragung fühlten sich übrigens die Kinder der ersten Gruppe von den Lehrpersonen nicht richtig unterstützt.
Erkrankungen wie Neurodermitis oder Psoriasis rufen auch immer wieder die Angst vor einer Ansteckung oder Ekel hervor. Es kann deshalb sinnvoll sein, die Eltern der anderen Kinder über die Krankheit zu informieren und aufzufordern, einen Beitrag zu leisten, damit Kinder mit einer Hauterkrankung nicht stigmatisiert werden.
Welche weiteren Möglichkeiten sehen Sie, damit Kinder mit einer Hauterkrankung nicht stigmatisiert werden?
Gegen Stigmatisierung braucht es eine breite Auseinandersetzung mit dem Thema Hauterkrankung – und zwar auf allen Ebenen. Dazu braucht es Aufklärung und Wissen für alle Beteiligten, wie sie Organisationen wie die Schweizerische Psoriasis- und Vitiligo-Gesellschaft oder die Stiftung aha! Allergiezentrum Schweiz bieten. Die Stiftung aha! beispielsweise berät Kinder mit Neurodermitis und ihre Eltern und hat verschiedene Broschüren rund um die Krankheit – auch für den Unterricht – veröffentlicht. Wir beraten, führen Kinder- und Eltern-Schulungen durch oder organisieren Kinder- und Jugendlager, die übrigens Betroffenen mit Psoriasis und Vitiligo ebenfalls offenstehen.
Hannes Lüthi ist stv. Geschäftsleiter der Stiftung aha! Allergiezentrum Schweiz. In seiner Masterarbeit ist er der Frage nachgegangen, ob und wie Kinder im Primarschulalter mit atopischer Dermatitis Stigmatisierung erleben und welche Bewältigungsstrategien sie im Umgang damit anwenden. «Stigmatisierung von Primarschulkindern mit atopischer Dermatitis», Masterarbeit in Sozialer Arbeit mit Schwerpunkt Soziale Innovation (2012), Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW, Olten.